«Bis zum Mond»

Im Museum Franz Gertsch in Burgdorf zeigte der Schwei­zer Künst­ler Reto Bärtschi im Herbst 2023 neu ent­stan­dene Arbei­ten: Zeich­nun­gen mit schwar­zem Tusche­stift und über­zeich­nete Por­trait­fo­to­gra­fien. Und vor dem Museum waren seine ein­drück­li­chen Wäch­ter-Figu­ren zu sehen. Im viel­sei­ti­gen Werk von Bärtschi ver­bin­det sich ein gros­ser Schaf­fens­drang mit dem Hang zur humor­vol­len Selbst­in­sze­nie­rung.

Die­ser Text basiert auf einem Inter­view, das Anna Wesle, die Kura­to­rin der Aus­stel­lung «Bis zum Mond», und Mathias Kobel als wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter mit dem Künst­ler im Sommer 2023 in Wan­gen­ried in sei­nem Ate­lier füh­ren konn­ten.

Der 1971 gebo­rene Reto Bärtschi beschreibt sich selbst in der Rück­schau als krea­ti­ves und ein­falls­rei­ches Kind – aus einer Hand­wer­ker­fa­mi­lie stam­mend, der Vater war Maler­meis­ter. Zuerst absol­vierte er eine Lehre als Car­ros­se­rie­speng­ler, dar­auf folg­ten Aus­bil­dun­gen zum Land­wirt und als Kunst­agoge. Die künst­le­risch prä­genste Zeit ver­brachte Bärtschi als Assis­tent des Schwei­zer Bild­hau­ers Jean Albert «Schang» Hut­ter (1934 – 2021) in Genua und als Gast­stu­dent und Assis­tent an der Kunst­hoch­schule Kas­sel bei Nor­bert Rader­ma­cher (*1953). Wäh­rend ver­schie­de­ner Sti­pen­dien und Ate­lier­auf­ent­halte, unter ande­rem in Kairo, New York und Tokio, ver­tiefte er seine Kennt­nisse der Zeich­nung und Kal­li­gra­fie.

Reto Bärts­chis Schaf­fen kreist um die mensch­li­che Figur. Er arbei­tet in unter­schied­lichs­ten Medien, in denen er seine Sicht auf den Men­schen, seine Bezie­hun­gen und sein Umfeld gestal­tet: Zeich­nung, Male­rei, Skulp­tur und Plas­tik, Objekt und Instal­la­tion, Foto­gra­fie und Video.

 
Mit der Wäch­ter-Figur hat sich Reto Bärtschi ein Mar­ken­zei­chen geschaf­fen, das in vie­len sei­ner Werke zu fin­den ist (Bild aus dem Buch «MENSCH – WÄCHTER», Seite 37).
Es ist erhält­lich im Muse­ums­shop in Burgdorf.

Bärts­chis Signet, eine Urform, ist die Wäch­ter-Figur. Sie hat sich ent­wi­ckelt aus der früh­kind­li­chen Form des Strich­männ­chens, einem Wesen ohne Arme. Ein Rück­griff auf ein Ent­wick­lungs­sta­dium, in dem der junge Mensch noch grosse Für­sorge benö­tigt und gleich­zei­tig weit­ge­hend unver­bil­det und frei ist. Reto Bärts­chis Figu­ren sind Kind und Küm­me­rer; der Künst­ler hat ein Indi­vi­duum visua­li­siert, das noch ohne reli­giöse Prä­gung und aner­zo­gene Vor­ur­teile «ein­fach Mensch» ist, wie er es aus­drückt.

Unsere Frage, wel­che zeit­ge­nös­si­schen künst­le­ri­schen Posi­tio­nen ihn fas­zi­nie­ren, beant­wor­tet Bärtschi mit den Namen Erwin Wurm (*1954), Damien Hirst (*1965), Jeff Koons (*1955) und Franz Gertsch (1930 – 2022). Die Auf­zäh­lung und Kom­bi­na­tion mag über­ra­schen, weist jedoch auf zwei Sei­ten des Reto Bärtschi hin. Die helle und die dunkle Seite des Mon­des? Einer­seits gibt es den Per­for­mer, der mit von Humor, Iro­nie und Selbst­iro­nie gepräg­ten, extro­ver­tier­ten Kunst-Aktionen auf sei­nem weit­läu­fi­gen KUNST-HOF (und anderswo) belus­tigt, begeis­tert und erfolg­reich ist. Ande­rer­seits – und hier ist wohl der Bezug zu Franz Gertsch zu ver­or­ten – fin­den wir den stil­le­ren, intro­ver­tier­ten Bärtschi.

Die Natur, der Mensch und seine Umwelt spielen als Elemente eine Rolle sowie die vier Jahreszeiten und die Vorstellung vom Werden, Sein und Vergehen, die für den Lebenszyklus steht.

Unter dem Titel «Bis zum Mond» the­ma­ti­sie­ren die fili­gra­nen, unter der Lupe ent­stan­de­nen Zeich­nun­gen mit schwar­zem Tusche­stift Bli­cke auf das mensch­li­che Bezie­hungs­ge­füge. Pflanz­li­che und flo­rale For­men – sie erin­nern an Gingko- und Eichen­blät­ter, Mohn- und Mai­glöck­chen-Blü­ten, die Pro­pel­ler der Linde und ver­schie­denste Samen – sowie Pla­ne­ten-kon­stel­la­tio­nen sym­bo­li­sie­ren Anzie­hung und Abstos­sung, Ken­nen­ler­nen und Zusam­men­fin­den, posi­tive Inter­ak­tion im Sinne eines Sich-Küm­merns, auch um den Schwä­che­ren.

Die über­zeich­ne­ten Por­trait­fo­to­gra­fien (siehe Titel­foto) zei­gen Men­schen aus dem pri­va­ten und beruf­li­chen Umfeld von Reto Bärtschi. An den digi­ta­len Pro­zess der heute weit fort­ge­schrit­te­nen Gesichts­er­ken­nung erin­nernd, zie­hen sich gra­fi­sche, sel­te­ner auch vege­ta­bile, orga­ni­sche Motive links und rechts einer Mit­tel­achse über das Ant­litz. Dabei geht es dem Künst­ler nicht um eine Ver­mes­sung oder Schub­la­di­sie­rung des Men­schen auf­grund sei­nes Aus­se­hens; mit sei­ner Zeich­nung strebt er viel­mehr die Dar­stel­lung der «phi­lo­so­phi­schen DNA» der Per­son an.

Woher rührt der Titel der Aus­stel­lung? Die Wort­folge erin­nert an eine bekannte Rede­wen­dung, die häu­fig auch in Kin­der­bü­chern und Song­tex­ten wer­wen­det wird. Reto Bärtschi ver­bin­det mit die­ser Stre­cken­an­gabe, der Ent­fer­nung der Erde zum Mond, den Aus­druck für die Stärke von Gefüh­len. Wenn man zu jeman­dem sagt, «ich liebe dich bis zum Mond und zurück», was wird das Gegen­über wohl ant­wor­ten? In die­sem Sinn sind die Arbei­ten von Reto Bärtschi Abbil­der von Bezie­hun­gen und eröff­nen ein brei­tes Feld für Asso­zia­tio­nen.

WWW.RETOBAERTSCHI.CH

Kata­log zur Aus­stel­lung «Bis zum Mond» mit 47 Abbil­dun­gen

Titel­foto die­ses Bei­tra­ges: Hans­Ruedi Kel­ler